Dr. Harald Schlitt


 

Wahrnehmung

 

Werkzeuge für das Training
sozialer Kompetenzen

 


Modul 1: Interpretation von Verhalten und nonverbalen Signalen

 

 


 

Handbuch zu Modul 1

 

Die Idee

Jede(r) Verhaltenstherapeut(in) kennt die Beschränktheit der professionellen Arbeitsmittel für die tägliche Praxis. Sogar die klassischen Formen der Intervention wie Entspannung, Konfrontation oder Training Sozialer Kompetenzen erfordern technische Erweiterungen des rein intramuralen, verbalen Eins-zu-eins-Settings. Dabei mangelt es den TherapeutInnen nicht an Ideen, was man tun könnte, welche äußeren Bedingungen wünschenswert wären oder wie eine gute materiale Unterstützung aussehen könnte. Aufwand und Kosten müssen jedoch besonders in einer niedergelassenen Praxis gering gehalten, die Arbeit und der persönliche Einsatz auf Verwaltungsakte und Klientenkontakte konzentriert werden. Selbst kreativ zu werden, eigene Medien zu erstellen, Anwendungen in laufender Praxis zu erproben und ihre Wirksamkeit lege artis festzustellen, ist vielen TherapeutInnen nicht möglich. Vorhandene Materialien sind in Qualität und Praktikabilität oft nicht ausreichend.

Aus dieser Not heraus habe ich Kontakt mit der Produktionsfirma „tm“ aufgenommen, die auf therapeutische Medien spezialisiert ist. Gemeinsam haben wir ein Konzept für eine Video-Reihe erarbeitet, die sowohl in medientechnischer als auch in fachlich-therapeutischer Hinsicht den Anforderungen täglicher psychotherapeutischer Praxis gerecht werden sollte. Für die schauspielerische Umsetzung konnten wir den hervorragenden Pantomimen, Jongleur und Clown „Calvero“ gewinnen. Ihm ist es ganz wesentlich zu verdanken, dass aus der Idee eine serienreife DVD-Reihe zur Unterstützung der Verhaltenstherapie in den Bereichen Soziale Kompetenz, Interpersonale Wahrnehmung, Kontaktverhalten/Kommunikation wurde. Das Ergebnis zahlreicher Diskussionen, Probeaufnahmen und Praxistests liegt nun unter dem Titel „Werkzeuge für das Training sozialer Kompetenzen“ vor. Modul 1 „Wahrnehmung“ bietet auf zwei DVDs insgesamt 34 Darstellungen emotionaler Prozesse. Acht davon stellt Calvero als Clown dar (besonders für Kinder und zum Einstieg geeignet). In 26 weiteren tritt er nur dezent geschminkt auf. Diese dezente Verfremdung soll dem Betrachter auch in den so genannten „Realszenen“ eine gemäßigte Distanz ermöglichen.

Meine Erfahrungen mit den „Werkzeugen“ in der Therapie haben meine Erwartungen an dieses technische Hilfsmittel weit übertroffen. Es ist innerhalb kürzester Zeit zu einem unverzichtbaren Bestandteil meiner therapeutischen Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen geworden. Die „Werkzeuge“ sind rationell, ökonomisch und universell verwendbar. Außerdem vitalisiert die Arbeit damit das oft trockene und mühevolle Alltagsgeschäft der Verhaltensänderung. Das dient nicht zuletzt auch der Motivierung und der psychischen Gesunderhaltung des Therapeuten.

Die „Werkzeuge“ bieten vielfältige Einsatzmöglichkeiten bei unterschiedlichsten Störungsbildern und sind nicht auf eine Altersgruppe beschränkt. In einer durch die Medienrevolution sehr viel visueller gewordenen Welt kommt das Medium Video in der Verhaltenstherapie offenbar den gewandelten Erwartungen und Wünschen der Menschen entgegen. Das zeigt sich nicht zuletzt darin, dass es damit nahezu mühelos gelingt, jüngere Klienten zu häuslichen Fortsetzungen und Übungen zu animieren. Ältere, weniger medienvertraute Adressaten erfahren dagegen den eindrucksvollen Zugewinn einer neuen Dimension der Selbstreflexion und Selbstextension. Hierin liegt wohl auch der Grund für die erstaunlich hohe Akzeptanz bei den Klienten.

Weitere Module sind zu den Themen Kontaktaufnahme, Kontaktgestaltung, Kontaktsituationen sowie Kontaktstile und -typen geplant. Da die weitere Entwicklung der „Werkzeuge“ in engem Kontakt mit den Praktikern erfolgen soll, bin ich dankbar für kollegiale Rückmeldungen, Erfahrungsberichte, wissenschaftliche Überprüfungen sowie für Verbesserungsvorschläge jeder Art.

 

Dipl-Psych. Dr. phil. Harald Schlitt
Psychol. Psychotherapeut, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut


 

 

Didaktische Voraussetzungen

Die beiden vorliegenden DVDs sind zur Unterstützung therapeutischen Handelns gedacht, sie sollen es nicht ersetzen und auch kein eigenständiges Training der Sozialen Kompetenzen anbieten. Nicht zuletzt deswegen gehört das didaktische Material in die Hände therapeutisch ausgebildeter Personen und nicht in die Hände von Fachfremden. Als Hilfsmittel in der Anwendung eines aufmerksamen Therapeuten ist es aber in vielerlei Hinsicht nützlich und integrierbar. Man braucht dafür lediglich einen Fernseher und einen DVD-Player. Zusätzlich ist Raum zum darstellenden Spiel nötig, sowie ein großer Spiegel zur Selbstbeobachtung. Sehr empfehlenswert ist auch ein Camcorder, um Verhalten aufzeichenen, wiedergeben und besprechen zu können.

Für Übungen von Eltern mit Kindern oder für Selbsttrainings verantwortlicher Jugendlicher und Erwachsener zuhause sind Spiegel und Camcorder hilfreich, da, angeregt durch das Materiel, vielerlei Arten von Hausaufgaben kreiert werden können, die auf diese Weise - und unterstützt durch therapeutische Instruktionen - kontrolliert durchgeführt werden können. Es geht sogar ohne Aufzeichnungsgeräte und technische Hilfsmittel. Trainings- und Transfereffekte sind ebenso mittels reiner Partnerübungen oder durch Spiegeltrainings ohne Wiedergabe zu erzielen. Sie können mit Beobachtungen, Zeichnungen, Fotos, Kollagen, Pantomimen, Skulpturen, Puppen- und Rollenspielen etc. sinnvoll ergänzt werden. Recht gut lassen sich die DVDs auch in Gruppentherapien aller Alterskohorten sowie - bei Hinzuziehung von Betreuern bzw. Eltern als Kotherapeuten - in Behinderten- und Kinderverhaltenstherapien einsetzen.
 

Inhalte und Handling

Das Modul 1 der „Werkzeuge“ besteht aus dem vorliegenden Booklet und zwei DVDs mit den ein- bis zweiminütigen Videosequenzen. DVD 1 enthält die Clown-Szenen, DVD 2 die Real-Szenen. Beide DVDs starten nach dem Vorspann mit einer kurzen Einführungsanimation, in der der Clown CALVERO mit überraschenden Jonglagen Interesse und Aufmerksamkeit der Betrachter bindet. Danach erscheint das Menu zur Auswahl der Filmsequenzen.

Auf der DVD mit dem „Clown“ können über das Menü acht Gefühlsdarstellungen abgerufen werden. Die Filmeinheiten wurden mit sog. Standfotos markiert, deren Bedeutung Sie bei der Anwendung schnell lernen und behalten werden. Zusätzlich enthalten die Schaltflächen Ziffern, mit deren Hilfe Sie in der beiliegenden Liste das gewünschte Gefühls-Motiv auswählen können. Wählen sie mit den Cursertasten Ihrer Fernbedienung ein Bild und klicken Sie es an. Die jeweilige Szene startet automatisch. Die Affekte werden von CALVERO in steigender Intensität dargestellt. Sie können den Film jederzeit stoppen, sich rückwärts oder vorwärts bewegen, sie können Zeitlupen und Raffungen auslösen, kurz: dynamisch und interaktiv mit dem Bildmaterial arbeiten. Auf Knopfdruck erscheint als Untertitel die Bezeichnung der gezeigten Emotionen. Diese Bezeichnungen sind Vorschläge, die Sie ergänzen können.

Die zweite DVD, die analog zur ersten aufgebaut und gestaltet ist, enthält 26 „Realszenen“. Sie sehen nach der Anwahl einer Szene einen dezent geschminkten CALVERO bei der Darstellung verschiedener Gefühle, beim Erleben dieser Emotionen und beim Gesteuertwerden durch die ablaufenden affektiven Prozesse. Die Auslösung der Szenen und die technische Handhabung geschieht ebenfalls per Menü, das sich jedoch auf dieser DVD über drei Seiten erstreckt. Das Blättern erfolgt durch anklicken der jeweiligen Schaltflächen am oberen Bildrand. Der Einsatz der Realszenen ist für ein kompetenteres Publikum gedacht (z.B. für Jugendliche oder für Erwachsene mit leichteren sozialen Limitierungen). Die „Clown-Szenen“ sind dagegen besonders für Kinder, geistig Behinderte, aber auch für schizophrene Patienten geeignet. Die dezente Verfremdung in den Realszenen durch leichte Schminke und die etwas wirren Haare sollen dem Betrachter eine gemäßigte Distanz ermöglichen.

 

Anwendungen

1. Wahrnehmungstraining

Die erste DVD-Anwendung, die sich anbietet, ist die Frage, um welches Gefühl es sich hier wohl handelt, was in diesem Moment in dem Darsteller vorgeht, wie es ihm geht, was er genau macht und warum er es so tut, wie er es tut. Wenn ein Vorschlag gemacht wird, stoppt man das Video und fragt nach, wodurch die Vermutung des Beobachters ausgelöst/motiviert wurde. Auf diese Weise erarbeitet man im Rahmen der gemeinsamen Emotionsbestimmung Zug um Zug ein besseres Verständnis des Zusammenspiels und der Bedeutungen von Körperhaltung, Mimik und Gestik. Physiologische Reaktionen und emotionale Beteiligungen werden teils beobachtet, teils (erinnert) erschlossen. Erleben, Werten und Wollen, innere gedankliche Abläufe sowie der mögliche äußere Kontext werden hypothetisch rekonstruiert. Man kann auf unterschiedliche Gefühlsmanifestationen bei unterschiedlichen Menschen hinweisen und Beobachtungsaufgaben in Auftrag geben (z.B. wie ärgern sich Kinder, Erwachsene, Tiere oder Comicfiguren?). Gut geeignet ist eine zusätzliche Darstellung der Gefühle oder mimischer Elemente durch den Therapeuten und deren Nachahmung durch den Klienten. Die Leistungen des Protagonisten im Film können gewürdigt werden, indem man selbst einmal versucht, eins, zwei, drei Minuten lang, eine Emotion darzustellen. Zur Festigung und weiteren Differenzierung heißt es dann üben, üben, üben, am besten mit einem Partner. Hausaufgaben mit verfügbaren Mitteln des Klienten und unter Anregung seiner Kreativität und Entdeckerfreude sind besonders zielführend. Übungen in gespielten bzw. realen Umwelten sollten selbstverständlich sein und als Konsolidierungs- und Transferelement beachtet werden.

 

2. Begriffsbildung

In der Arbeit mit Kindern ist das Finden und Einüben exakter Bezeichnungen für das Dargestellte besonders wichtig: „Wie nennt man dieses Gefühl, wie heißt jene Haltung, gibt es ähnliche Zustände, wie könnte man diese bezeichnen, welche Wörter kennst du noch dafür, was ist der Unterschied zwischen den Bezeichnungen? Was ist z.B. das Gegenteil von Hass, was das Gegenteil von Langeweile, Ärger, Beunruhigung etc? Gibt es Gefühle, die gar nichts miteinander zu tun haben? Sind die Gefühle alle miteinander verwandt? Wodurch werden welche Gefühle ausgelöst (z.B. Ekel), was bewirken Gefühle (Angst z.B. Gänsehaut)? Kann man eigentlich mehrere Gefühle in einem Zusammenhang - hintereinander oder sogar gleichzeitig - haben? Wie sieht das aus, kann man das z.B. in den Videos beobachten, oder kannst du so etwas mal zeigen? Kennst Du weitere Beispiele, etwa von Menschen, die Du kennst, oder von Dir selbst? Gibt es Gefühle, die sich nicht miteinander vertragen und was passiert dann, wenn sie trotzdem gleichzeitig ausgelöst werden? Kann man Gefühle aktiv beeinflussen oder sogar umwandeln? Wie geht das bei anderen, wie bei Dir selbst?

Bei Jugendlichen und Erwachsenen kann man zusätzlich Assioziationen von Gefühlswörtern abrufen: an was denken Sie bei dem Wort Liebe, Sehnsucht, Leid? Welche Bilder, Fantasien oder Erinnerungen haben Sie? Wie fühlt sich das für Sie an? Welche Repräsentationen werden gebildet, wenn Sie sich z.B. eine Farbe, eine Musik, eine Blume, eine Landschaft für dieses Gefühl, für jenen emotionalen Komplex vorstellen? Welche konkrete Bewegung wird durch ein Gefühlswort ausgelöst? Wie unterscheiden Sie z.B. Scham und schlechtes Gewissen? etc...

 

3. Implementierung und Dynamisierung von Begriffen

Nach einer Zeit des Einübens von Bezeichnungen und Differenzierungen kann man Emotionen parallel verbalisieren lassen, um diese Konzepte flüssiger und praktisch wirksamer zu machen. Die Klienten sollen sukzessive die Abläufe beschreiben und kommentieren wie ein engagierter Fußballkommentator. Man trainiert vielleicht am besten zunächst in Zeitlupe und dann in Realzeit.

Folgende Übungsvariationen des sogenannten „aktionsbegleitenden Sprechens“ sind möglich:

a) Verbalisieren während des Ablaufens der Video-Sequenz (oder anderer geeigneter Filme wie Mr.-Bean-Sketche für Kinder oder Filme ohne Ton für Jugendliche und Erwachsene).

b) Verbalisieren beim aktiven Nachahmen eines Video-Modells (und weiterer Film- sowie Real-Modelle bzw. Verbalisieren bei der Darstellung eigener Erinnerungen und Entwürfe).

c) Verbalisieren des bloß erinnerten, aber gleichzeitig beim Sprechen vor dem inneren Auge ablaufenden Video-Films (u.a. variierender szenischer Vorgaben) ohne handelnde Darstellung.

Man kann diese Verbalisationen außerdem zuerst laut sprechen, dann nur noch flüstern lassen, und schließlich in lautloses, d.h. inneres, bloß gedachtes Sprechen überführen. Dies dient einmal mehr aktiver Implementierung und Beschleunigung emotionaler Begriffe.

 

4. Ausdrucksschulung

Die stärkste Bewusstmachung emotionaler Konzepte und Schulung eigener Emotionen steckt wahrscheinlich im aktiv kontrollierten, zunächst bloß gespielten Ausdruck von Gefühlen. Das beginnt mit der Nachahmung des Darstellers ohne begleitendes Sprechen, aber aufmerksamer Beobachtungen des Innen vs. des Außen. Dies wird durch Variationen des gleichen Gefühls nach den Vorstellungen, Spiellaunen und Eingebungen des Klienten erweitert. Dabei sind die äußere und die innere Selbstbeobachtung abwechselnd zu zentrieren: „Was passiert in Deinem Inneren, wenn Du das nachspielst, was spürst Du, was stört dich, was gefällt Dir (an diesem Gesicht, an dieser Haltung, an dieser Bewegung)? Wie drückt sich da etwas von Dir oder von jemand anderem aus? Spiel doch mal den Papa, wenn er wütend ist, und die Mama, wenn sie sich freut, und umgekehrt! Spiel Deinen Freund/Feind. Bist Du auch manchmal so? Wie? Eltern, spielt einmal Euer Kind, wenn es sich gut fühlt, oder wenn es schlecht gelaunt ist und unwillig. Was fühlt Ihr?“ Für Jugendliche und Erwachsene bzgl. der Außenwirkung: „Wie sieht das von außen aus, wenn Sie wütend, glücklich oder unsicher spielen? Was können Sie im Spiegel/Camcorder beobachten? Was erregt Ihre Aufmerksamkeit, was nicht? Ändert sich die Wahrnehmung, wenn Sie sich länger/öfter/inten-siver selbst zuschauen? Wie? Bekommen Sie Kontakt zu sich? Welchen? Ändert sich das Selbstgefühl? Wie genau?“

 

5. Integration von Innen und Außenperspektive

Innen und Außenperspektive können mit folgender Instruktion zusammengebracht werden (die Video-Darstellungen können als Beispiel dafür dienen, da hier tatsächlich imaginierte Szenen nachgespielt werden): „Die meisten Menschen können ein Gefühl ganz gut spielen, wenn sie sich z.B. an eine Situation erinnern oder eine Szene vorstellen, in der Sie oder eine andere Person natürlicherweise dieses Gefühl hat. Probieren Sie diesen Trick der Profischauspieler einmal aus. Machen Sie sich eine entsprechende Hilfsvorstellung. Welche Gefühle, welche Szenen fallen Ihnen ein? Überlegen Sie noch zehn weitere Situationen/Emotionen. Üben Sie sie zuhause vor dem Spiegel, nehmen Sie die Darstellungen mit dem Camcorder auf und demonstrieren Sie beim nächsten Termin Ihre Proben. Spielen Sie diese Gefühle in Zeitlupe oder als Slapstick, zart oder burlesk. Bei intensiver Darstellung soll man sich viel Zeit lassen und das Gefühl langsam entwickeln, es nach und nach verstärken und wieder ebenso langsam zurücknehmen. Üben Sie Übergänge und Gefühlskombinationen, kleinere emotionale Szenen. Spielen Sie mit imaginären Partnern. Spielen Sie andere, spielen Sie sich selbst, Ihre Stärken, Ihre Schwächen. Spielen Sie, wie Sie gerne wären bzw. nicht sein wollen. Variieren Sie. Reden Sie viel über Ihre Spielerlebnisse.

 

6. Gefühlsansteckung und Empathie

Eine Erfahrung machen alle, die Emotionen spielen. Man muss lachen, wenn ein dargestelltes Gefühl so intensiv ausgeführt wird, dass man bei der Betrachtung unwillkürlich angesteckt wird und innerlich mitgeht. Man weiß aber, dass es gar nicht echt ist, sondern bloß gespielt. Das ist komisch. Bei gesteigerten, relativ schmerzlichen Gefühlen kann das auch wütend machen, weil Schauspieler und Regisseur hier eine Macht auf uns ausüben, die uns nicht recht ist, der wir uns jedoch gleichfalls nicht entziehen können, was uns zu wirklich „Betroffenen“ macht. Der Clown erreicht uns durch eine „Suggestion“. Er schaut uns an, fesselt Aufmerksamkeit und Interesse. Er setzt sein Erleben langsam in Ausdruck um und animiert uns stetig, seinen Gemütsbewegungen zu folgen, sie in eigenen Minimalbewegungen oder in ideellen Wiederholungen nachzuformen. Dadurch, nicht bloß durch äußere Beobachtung, Benennung und willentliche Deutung, werden Gefühle eines Menschen üblicherweise und natürlicherweise in einem anderen nach dem Modell des ersten repliziert. Umgekehrt wird es so möglich - d.h. wenn wir uns darauf einlassen -, die Gefühlswelt eines anderen, quasi authentisch, (mit- oder nach-) zu erleben, ihn unmittelbar zu verstehen, ihm gegenüber lebendige Anteilnahme, oder, ganz im Gegenteil, entschiedene Aversionen zu entwickeln. Diesen Sinn für den Draht zwischen uns und den anderen gilt es zu trainieren. In der Arbeit mit den „Werkzeugen“ ist deshalb vor allem auf das Mitgehen und das In-sich-Hineinhorchen als Auskunftsquell über die Innenwelten der Spielfiguren bzw. auf das präzise Sich-ausdrücken-Können abzuheben.

 

7. Übungen zum Folgen und Führen

Es müssen Techniken zur Selbstangleichung (Folgen) vermittelt werden. Das heißt, bewusst äußerlich minimalen Bewegungen folgen, nachahmend mitgehen, bis man die Emotion des anderen in sich nachempfinden kann. Umgekehrt gilt es, sich so auszudrücken, dass man von einem anderen verstanden wird, wenn dieser sich analog verhält. Empfehlen Sie Ihrem Klienten, sich die Modellfigur im Film genau anzusehen und nachzuahmen, während er sie  betrachtet. Es genügt hierbei eine andeutungsweise Übernahme der Ausdrucksbewegungen. Beobachten Sie genau ihr inneres Miterleben und berichten Sie davon. Besonders geeignet zu dieser Form des Gefühlelesens sind die meist noch etwas unklaren Anfangssequenzen der sukzessive intensivierten Gefühlsdarstellungen, allerdings auch oft Weiterführungen derselben, da ja meist eine sich entwickelnde Geschichte erzählt wird, die aufgrund des im Film fehlenden Kontextes lediglich aus Gefühlsspiegelungen zu rekonstruieren ist.

Eine weitere Übung ist das „Interaktive Gefühleraten“, wobei ein Spieler „in ein Gefühl geht“ und der Mitspieler es erfühlen/erraten muss (anschließend Rollentausch). Außerdem ist es sehr interessant, sich selbst auf Video aufzunehmen, um zu sehen, wie man auf Dritte bzw. auf sich selbst wirkt. Schließlich kann man die Klienten anregen, in täglichen Interaktionen diese Empathie zu trainieren und eigene Reaktionen auf andere auch aus dieser Information heraus bewusst mitzugestalten. Man kann auch einmal versuchen, den emotionalen Ausdruck als implizite bzw. „verdeckte“ Botschaft wirken zu lassen, indem man eine emotionale Nachricht (z.B. „Interessiere dich für mich!“ oder: „Erleb Deine Qualität/Attraktivität!“) in das eigene Verhalten einpackt, während man zur selben Zeit (fast) wie üblich mit seinem Gegenüber interagiert (Führen).

 

8. Aktualisierung bedeutsamer Erlebnisinhalte, Unterstützung emotionaler Bewältigungen

In der Arbeit mit den „Werkzeugen“ ist mir besonders im Kontakt mit schwer zu erreichenden Patienten aufgefallen, dass die Filme, Übungen und Gespräche oft zur Aktualisierung von Erlebnissen und Betroffenheiten von Klienten führt. So ist z.B. bei der Differenzierung von Ärger/Wut und Depression bei einem dreizenhnjährigen Jungen mit ADS die Szene wiederbelebt worden, als seine depressiv erkrankte Mutter nur gewaltsam davon abgehalten werden konnte, sich vom Balkon zu stürzen. Bei einem schizophrenen jungen Mann sind beim Training  belastende Erfahrungen mit der Psychose mitgeteilt und in dem Zusammenhang zum Thema gemacht worden. Das half dem Patienten eindeutig, sich verstanden und „normaler“ zu fühlen sowie seine Angst weniger zu fürchten. Dieser Side-Effect kann mitunter zum therapeutisch nützlichen Haupteffekt werden. Auf einem indirekten, nicht unmittelbar konfrontativen Weg sind Belastungen/Erlebnisse oft leichter zu thematisieren bzw. Auseinandersetzungen damit positiver, ressourcenorientierter zu rahmen, als in üblichen, unanimiert sprachlichen Formen. Über den Einsatz konventioneller therapeutischer Gesprächstechniken, spezifischer erlebnis- und verhaltensverändernder Interventionen sind diese günstigen Aktualisierungen dann relativ leicht in Bewältigungen zur transformieren. Deshalb ist mittels der Video-Filme eine „Pendeltechnik“ zwischen der Einübung sozialer Kompetenzen einerseits und therapeutischer Umarbeitung  belastender Bedeutungen andererseits eine kunstvolle Erweiterung der Methodenpalette für fortgeschrittene Therapeuten.

 

 

 

Der Autor

Dr. Harald Schlitt ist Diplom-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut sowie Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut. Von 1984 bis 1993 arbeitete er als klinischer Psychologe an der Universitätskinderklinik Mainz. Er ist Dozent an verschiedenen psychotherapeutischen Ausbildungsinstituten und Supervisor für Verhaltenstherapie. Seine Schwerpunkte sind die klinische Entwicklungspsychologie, die Bewältigung chronischer Krankheiten, die Therapieintegration sowie das Training sozialer Kompetenzen. Seit 1993 ist er in eigener Praxis in Mainz tätig.

 

Der Darsteller

Calvero ist Pantomime, Jongleur und Clown der Extraklasse. Ihm ist es ganz wesentlich zu verdanken, dass die Idee der “Werkzeuge” Wirklichkeit werden konnte. Als Clown und als (dezent geschminkte) Realperson setzt er Emotionen und Signale präzise und prägnant in Szene. Dadurch gewinnt das Lernen am Modell in der therapeutischen Praxis eine völlig neue Dimension.

 

Die Produktion

tm - therapeutische medien
Wolfgang Herzhauser
Kakteenweg 8
55126 Mainz
mail: tm@tm-mainz.de
web: www.tm-mainz.de